Chihiro Onitsuka – Dorothy
Ich möchte voraus schicken, dass ich diesem Album zuerst sehr skeptisch und fast ein wenig ablehnend gegenüber stand. Beim ersten Anhören fand ich aufgrund meiner Erwartungshaltung durch andere Musikstücke von Chihiro keinen rechten Zugang zu dem Material. Den Gesang empfand ich oftmals als gekünstelt, die Musikstücke als übertrieben emphatisch und zuwenig eigenständig. Der erste Eindruck kann sehr unfair und vor allem täuschend sein.
Inzwischen habe ich dieses Album unzählige Male gehört, mal durchgängig, mal in abweichender Titelfolge, je nach Stimmung und Gelegenheit. Ich fand einige Beschreibungen des Albums und seiner Musiktitel in englischer Sprache im Internet, und das inspirierte mich zu dieser Beschreibung, zumal ich nicht immer der gleichen Meinung bin.
Dies ist ein Musterbeispiel für ein rundum gelungenes Musikalbum. In einer Zeit, in der so genannte Superstars in Hysterie heischenden Fernsehformaten gekürt werden und von dauergrinsenden Produzenten austauschbare Musiktitel verpasst bekommen, ist eine Vollblut-Singer/Songwriterin fast etwas Exotisches. Chihiro hat sicher viele Auftritte in kleinen und kleinsten Musikschuppen hinter sich bringen müssen, bis sie 2003 im Budokan vor einem Riesenpublikum auftreten durfte.
Das Album weist einen Gitarren-geprägten rockigen Klangeindruck auf. Es zeugt von vorzüglich ausgeführtem Handwerk in jeder Hinsicht: Komposition, Instrumentierung, Arrangement, Instrumentenbeherrschung, Aufnahme und Mischung von Gesang und Instrumenten, bis hin zum Mastering des Gesamtwerks. Hier waren Könner am Werk, die ihr gesamtes Vermögen zum besten Ergebnis eingebracht haben.
Die überwiegend japanischen Liedtexte sind sehr versponnen und interpretationsbedürftig, und Übersetzungen bringen immer Verfälschungen mit sich. Daher möchte ich mich nicht so sehr über Textaussagen und ihre Qualitäten auslassen, sondern vor allem die musikalischen Aspekte beschreiben.
Dorothy CD-Label
Credit: asahilabel
Das Begleitheft
Dem Album liegt auch ein schön gestaltetes Booklet bei. Allerdings setzt das verfügbare Platzangebot enge Grenzen für die Lesbarkeit. Daher habe ich das Booklet eingescannt; das PDF (5,1 MB) kann hier herunter geladen werden. Die Gestaltung des Booklets lässt darauf schließen, dass Dorothy ein Konzeptalbum sein soll. Es gibt eine Art Motto, das auf der ersten Umschlagseite geschrieben steht:
This Golden Flame. This Metaphorical Scream. Now I Am On A Brighter Scenario.
Dieses Motto lässt das Album als therapeutischen Vorgang erscheinen, der Chihiro (und mit ihr auch den Zuhörer) durch eine Transformation zur Erkenntnis oder wenigstens zur Befreiung führt. Vielleicht ist diese Interpretation etwas weit her geholt, aber in meiner persönlichen Wahrnehmung hat die Musik des Albums diese Wirkung auf mich.
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Die Bildillustrationen lassen eine Assoziation zum Wizard of Oz  (deutsch: Der Zauberer von Oz  ) erkennen. Hier gibt es die Figur der Dorothy Gale  , im Kinofilm von 1939 gespielt von Judy Garland. Eine weitere Assoziation ist Alice im Wunderland  . Diesen Assoziationen gemeinsam ist die Darstellung einer Traumwelt, in der das jeweilige Geschehen spielt. Auch im Album Dorothy wird eine Traumwelt beschrieben, allerdings gibt es keinen erkennbaren »roten Faden«.
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Im Booklet ist auch eine Auflistung der Musiker für jeden Titel (sog. Credits) enthalten, die im Original wirklich kaum lesbar ist. Zur besseren Lesbarkeit habe ich die Seite stark vergrößert und in schwarzer Schrift auf weißem Hintergrund abgebildet, sie kann hier als PDF (1,4 MB) herunter geladen werden. Die beiden Fotos rechts zeigen Chihiro im Dorothy-Outfit.
Dorothy Titelliste
1.  A White Whale In My Quiet Dream
Dieses acapella gesungene kurze Intro mit rhythmischer Trommel-Begleitung ist etwas sperrig und könnte den Zuhörer auf eine falsche Wahrnehmung des gesamten Albums in Richtung Indie-Geschrammel bringen. Aber wenn man Chihiros künsterische Intention richtig deuten mag, steht der »weiße Wal« wohl für etwas Unfassbares, das sie für den Zuhörer fassbar machen möchte, und so kann ich der letzten Textzeile nur zustimmen: A white whale goes just right – ein weißer Wal kommt gerade recht. Hat man das ganze Album einmal durchgehört, erscheint dieses Intro etwas logischer.
Chihiros Stimme ist auch solo sehr angenehm anzuhören, und der Klang der Trommel (einer Bodhrán  ) mit kurzem Nachhall ist sehr gut abgestimmt.
2.  Kagerou
Ein schöner Gitarrensound mit luftiger Klavierbegleitung, ein erdiges Schlagzeug zusammen mit stimmigem und lebendigem Bassspiel geleiten durch dieses Stück. Ab dem zweiten Vers kommen dann noch Streicher hinzu, die bis zum Ende das akustische Geschehen prägen. Bei den ersten Takten des zweiten Verses bekomme ich immer wieder eine Gänsehaut durch die Harmoniefolge.
Nach dem zweiten Refrain folgt eine Kulmination, akustisch ausgedrückt durch ein starkes Echo auf der Gesangsstimme; so wird der Ausdruck des Textes verdichtet und dem Zuhörer spürbar gemacht, auch wenn er kein Wort davon versteht. Dann wird ein Teil des ersten Refrains mit sparsamer Instrumentierung wiederholt, die Instrumentierung intensiviert sich allmählich wieder bis zu einem durch ein anschwellendes Gitarrenriff erreichten Abriss mit anschließender Wiederholung des zweiten Refrains. Im nachfolgenden Instrumental-Ausklang mit Ausblendung verliert sich das musikalische Geschehen.
Der Titel bedeutet übersetzt »Hitzeflimmern«. Es geht darin um Ratlosigkeit nach dem Abschied von einer Person, um Leere, die unerfüllte Wünsche zutage treten lässt. Ich kann dieses Gefühl gut nachempfinden, und das Gesamtwerk dieses Musikstücks hilft mir dabei, indem es Erinnerungen wach werden lässt, ohne sie unnötig heftig aufzurühren. Es versöhnt mich mit meinen Erfahrungen und lässt mich Frieden mit ihnen schließen.
Der Videoclip zu diesem Titel zeigt eine triste in schwefelgelber Farbe beleuchtete Ebene, die zunächst meistenteils trocken ist und sich allmählich mit Wasser füllt. Chihiros Gestalt materialisiert sich immer wieder, indem mehrere schwarze Vögel ineinander fliegen, bis der menschliche Körper daraus entstanden ist; auf dieselbe Weise löst sich der Körper unter heftigem Federstieben auch wieder in die einzeln davonfliegenden Vögel auf. (Dieser Effekt wurde bereits 1998 im Videoclip zu Frozen von Madonna eindrucksvoll demonstriert.) Chihiro erscheint in einem traditionellen Umhang, den sie immer wieder wie Flügel ausbreitet und schließlich abwirft, um sich ein letztes Mal in eine Vogelschar aufzulösen und davonzufliegen. Am Ende sieht man den Umhang im Wasser treiben.
Ich deute das Geschehen so, dass Chihiro die oberflächlichen und für sie entbehrlichen Gefühle für die fehlende Person abstreift und sich so von ihnen befreit – eine sehr tröstliche Allegorie, wie ich finde. Der schwefelgelbe Farbton könnte für verblichene Erinnerungen stehen, wie eine alte ausgeblichene Fotografie. Die Schwingen des Vogels tauchen in Chihiros Liedtexten und Musikvideos immer wiederkehrend symbolisch auf.
Kagerou Videoclip Bild 1
Kagerou Videoclip Bild 2
Kagerou Videoclip Bild 3
Kagerou Videoclip
3.  X
Hier zeigt Chihiro alles, was in ihr steckt: Sanfter, kraftvoller und auch mächtiger Gesang, mit einer klaren und festen Melodieführung. Das ist definitiv einer ihrer aggressivsten Titel. Inhaltlich geht es offenbar um ihre ungestillte und letztlich unstillbare Sehnsucht nach körperlicher Befriedigung und sexueller Erfüllung.
Im Intro wird der leicht bandbegrenzte und verzerrte Gesang nur von Klavier und sanften Keyboards und gelegentlichen Gitarrenklängen begleitet, bis mit dem ersten Vers ein kraftvolles Musikstück beginnt. Auch hier wieder sauberes und erstklassiges Handwerk mit einem satten von verzerrten Gitarren geprägten Rocksound. Ab dem zweiten Vers konkurrieren verzerrte Gitarre und Streicher miteinander in der Begleitung der überlegen tragenden Gesangsstimme.
Nach dem zweiten Refrain folgt ein Einschub mit ätherischem Gesang, nur von Gitarren, Klavier und Streichern begleitet. Danach erscheint das weitere akustische Geschehen etwas zerrissen durch die Dominanz der stark verzerrten und gelegentlich atonalen Gitarren, was jedoch den Gesamteindruck nur verdichtet und intensiviert. Am Ende gibt es noch eine Art Coda mit hektischen Gitarrengeräuschen und dröhnendem Schlagzeug, und mit einer pfeifenden Gitarrenrückkopplung endet der Titel.
Auch zu diesem Titel gibt es einen Videoclip. Das Thema ist allerdings etwas heikel, und das japanische Fernsehen ist noch prüder als das im westlichen Kulturkreis. Daher wurde zur Visualisierung die ekstatische Tanzszene eines Paares in einem Park gewählt. Chihiro verharrt zunächst auf einer Bank stehend, von der sie dann herunter springt und allein wild umhertanzt. Auf ihrem Weg durch den Park trifft sie auf ihren Partner, mit dem sie den Tanz in einem Bachlauf und auf einer Brücke fortsetzt, bis beide vor Erschöpfung zusammenbrechen. Am Ende sieht man ein kleines Kind mit fragendem Blick allein auf der Brücke sitzen. Dieser Film wirkt auf mich trotz seiner Ästhetik etwas bemüht und verkrampft.
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X Videoclip
4.  Storyteller
Auf das vorhergehende etwas verstörende Musikstück folgt dieser versöhnliche und heimelige Titel. Er beginnt mit einer friedvollen harmonischen Einführung, die von akustischen Gitarren geprägt wird und auch durch den Einsatz einer Mundharmonika nicht getrübt werden kann.
Chihiro singt von einem Geschichtenerzähler, dem Erzähler unserer Lebensgeschichte, der uns durch das Leben geleitet und von dem sie sich wünscht, er möge nicht langweilen, sondern eine spannende und packende Geschichte darbieten und den Zuhörer in eine »heilige und rechtschaffene Zukunft« führen.
Ab dem zweiten Vers tritt teilweise begleitend mehrstimmiger Hintergrundgesang auf, was eher untypisch für Chihiros Musik ist. Nach dem zweiten Refrain und einem weiteren Versuch der Mundharmonika, das Geschehen einzutrüben, gibt es einen Einschub mit sparsamer Instrumentierung, danach wird der musikalische Faden wieder aufgenommen. Das Schlagzeugspiel wird nun geprägt vom Ride-Becken, und das Refrain-Thema wird mehrfach wiederholt, bis der Titel sauber und harmonisch beendet wird.
Meine Seitenhiebe auf den Einsatz einer Mundharmonika sollen klar stellen, dass ich dieses Instrument nicht mag. Trotzdem kann ich in dem Titel nicht einmal diese Verirrung in der Entwicklung der Musikinstrumente beanstanden: Der Klang passt einfach prima hier hinein, zumal das Instrument hervorragend gespielt wird.
5.  Steal This Heart
Dieses Stück ist untypisch für Chihiro, und es ist vielen Zuhörern unangenehm aufgestoßen – mir zuerst auch. Es gibt einen grellbunten Videoclip dazu, den man für den verzweifelten Versuch Chihiros, die Hitparade zu stürmen, fehlinterpretieren könnte. Aber so klingt es eben, wenn Chihiro einmal fröhlich und ausgelassen ist: Sie singt davon, wie verliebt sie ist und wie gut sich das für sie anfühlt; so gut, dass sie sich das Herz wieder und wieder stehlen lassen möchte und »ungeschickt diesem Gefühl folgt«.
Allen, die diesen Titel beanstanden, möchte ich sagen: Habt doch Verständnis dafür, dass Chihiro auch mal aus ihrer Rolle als mondanbetender Melancholieverbreiterin ausbrechen und einfach das Leben genießen möchte! Ganz nebenbei, sie kann auch solche Titel hervorragend zum Ausdruck bringen und richtig abtanzen – von wegen ungeschickt.
Es ist eine lebendige und gute Laune verbreitende Popnummer, mit fröhlichen Gitarren- und quietschenden Synthie-Klängen – für Chihiro eigentlich undenkbar. Wenn man es laut anhört, steckt es richtig an und lässt den Zuhörer an Chihiros Trip teilhaben. Besonders gelungen finde ich den abschließenden Schlagzeug-Break mit an- und abschwellendem Crash-Becken. Den nachfolgenden Klang-Mischmasch aus Kurzwellenradio und Gitarren-Fehlgeräuschen kann ich nur so interpretieren, dass dies den Kater nach dem Besäufnis oder den Tinnitus im Gehör nach der lauten Musik darstellen soll.
Ausgehend von der Dominanz der Gitarren und von einigen Szenen des Videoclips kann man erahnen, wer Chihiros Herz gestohlen hat. Auch die kreischenden Gitarren in X weisen in dieselbe Richtung...
Steal This Heart Videoclip Bild 1
Steal This Heart Videoclip Bild 2
Steal This Heart Videoclip
6.  I Pass By
Wieder ein für Chihiro eher untypischer Titel, diesmal im Country-Sound. Nach dem berauschenden Verliebtheits-Trip scheint sie wieder am Boden angekommen zu sein und singt »ach was soll’s, ist doch eh’ alles gleich«, und gebraucht sogar das böse F-Wort: What a f**kin’ thrill. Der Text ist englisch, sie singt engrisch  , und man versteht kaum ein Wort. Chihiro, bitte sing japanisch – es klingt viel schöner, wenn du »moyashita« oder »kimochi« oder »tomoshibi« singst!
Der Sound dieses Musikstücks ist einfach herrlich. Gitarre, Steel-Guitar und Hammond-Orgel und ein saftig-knackiges Schlagzeug sorgen für eine angenehme und tanzbare Stimmung. Krönung des Ganzen ist ein wunderbares Steel-Guitar-Solo nach dem zweiten Refrain.
7.  Kaerimichi Wo Nakushite
Nun ist es für dieses Album vorbei mit der Ausgelassenheit, hier folgt wieder die wehmütige Melancholie, die für Chihiro typisch ist. Der Titel bedeutet: »Ich bin dabei, meinen Weg nach Hause zu verlieren«. Die Streicher im Intro drücken diese Stimmung anschaulich aus. Auch hier wieder schöne Klänge mehrerer akustischer Gitarren.
Im ersten Vers und ersten Refrain bleibt das Schlagzeug dezent im Hintergrund und strukturiert mit sanften Snaredrum-Schlägen den Rhythmus. Ab dem zweiten Vers entfaltet sich ein satter und ausgewogener Beat, zunächst mit aufgelegtem Stock, dann mit vollem Snare-Einsatz.
Chihiros Gesang ist zu Beginn fest und kraftvoll, wirkt durch den höhenbetonten Nachhall sehr feierlich und akzentuiert. Nach dem zweiten Refrain kulminiert der Gesang dann in mit starkem Echo betonten sirenenartigen Ruftönen, die sich im Nachhall verlieren. Es folgt ein sparsam instrumentierter Einschub mit sanfterem Gesang, nach dem sich wieder das volle Klangbild entfaltet. Als wäre noch nicht alles zum Ausdruck gebracht worden, folgt wieder eine Reflexionspause im Musikfluss, und nach einem mächtigen Schlagzeug-Break geht es nochmals mit vollem Streichereinsatz weiter, wie der Abspann in einem Spielfilm. Aber wider Erwarten endet der Titel nicht mit einer Ausblendung, sondern wird sauber mit einem Schlussakkord beendet.
Der Videoclip zeigt Chihiro in drei nächtlichen Szenen, die immer wieder einander gegenüber gestellt werden: Ein vom Mond beschienenes Gemäuer mit einem geöffneten Konzertflügel, vor dem sie am Boden kauert, während Federn auf sie herabschweben; eine Meeresbucht – wieder mit Mondblick –, die sie nachdenklich betrachtet, und schließlich ein kahler und ungemütlicher Raum, in dem sie verstört auf- und abgeht. Während des sirenenartigen Gesanges schreit sie sich die Seele aus dem Leib, um am Ende die Arme auszubreiten und sich dem Licht entgegen zu strecken.
In diesem düsteren Szenenbild scheint wirklich nirgends etwas zu sein, das ihr Halt und Richtung gibt. Obwohl sie »weiß, wovor der Mond uns beschützt«, ist sie verängstigt, und zuletzt resümert sie: I’ll simply cry and howl – ich werde einfach schreien und heulen. Sehr viel wehmütiger geht es kaum.
Kaerimichi Wo Nakushite Videoclip Bild 1
Kaerimichi Wo Nakushite Videoclip Bild 2
Kaerimichi Wo Nakushite Videoclip Bild 3
Kaerimichi Wo Nakushite Videoclip
8.  Losing A Distance
Hier haben wir wieder eine leichte Country-Atmosphäre. Hammond-Orgel und Piano zusammen mit einem luftigen Schlagzeug und lyrischen Basslinien führen den Zuhörer durch den ersten Vers. Eine durchgängige Triangel-Percussion akzentuiert dann die Rhythmik, bis das Schlagzeug seinen vollen Einsatz entfaltet. Nun tragen auch wieder einige E-Gitarrenriffs zum Klangeindruck bei.
Sehr schön sind in diesem Titel immer wieder die im Nachhall verklingenden Enden der Gesangslinien. Mit ihrem Liedtext drückt Chihiro ihre Bewunderung für eine »schöne Person« aus, zu der sie allmählich die Distanz verringert – ich denke, sie ist gerade dabei, sich zu verlieben. Wer dieses Gefühl kennt, der kann sich in diesem Stück wiederfinden und in diese wunderbare Stimmung eintauchen.
9.  Last Melody
Nach einem sphärischen Gitarren-geprägten Intro folgt ein schöner warmer Rocksound, der von einer lebhaften Klavierlinie und harmonisch gleich bleibenden Gitarrenakkorden mit einem festen und druckvollen Schlagzeugspiel dominiert wird.
Es geht offenbar um den Abschied von einem gestorbenen Menschen, dessen Worte und Stimme noch in Chihiro nachklingen. Nachdem ich gerade einige Todesfälle im persönlichen Umfeld miterlebt habe, kann ich mich sehr gut in die Stimmung hinein versetzen.
Gerade das Zusammenspiel zwischen der E-Gitarre und Chihiros lyrischem Gesang ist in diesem Titel wundervoll anzuhören. Dass er durch Ausblendung beendet wird, ist absolut gerechtfertigt; diese Stimmung lässt keinen Schlussakkord zu.
10.  Hotaru
Der Beginn dieses Stückes mit Streichereinsatz wirkt fast etwas überemphatisch. Da aber das gesamte Stück vom Klang der Streicher und Solo-Celli geprägt ist, gibt es nichts daran auszusetzen. Die Abstimmung der weiteren Instrumentierung mit Piano, Gitarren und Bouzouki in Verbindung mit einem einfühlsamen Schlagzeugspiel finde ich hervorragend gelungen. Chihiros Gesang ist hier, wie schon so oft, nachtigallengleich wehmütig.
In dieser Ballade geht es um den Tanz der Glühwürmchen, in dem Chihiro unser ganzes Leben symbolisiert findet: Ein unaufhörliches und doch endliches Glühen, in dem die Zeit zum Stillstand kommt. In den Figuren der Streicher wird dieser Tanz musikalisch sehr gut zum Ausdruck gebracht. Auch der Schluss des Titels ist sehr ausdrucksstark gelungen.
Der Videoclip zu diesem Titel zeigt Chihiro in verschiedenen Einstellungen, wie sie dieses Lied singt oder im Freien posiert, in Verbindung mit Szenen aus dem Film Last Game: Saigo No Soukeisen  , in dem die Musik verwendet wurde. In dem Film geht es um College-Baseball in Japan in der Zeit des Zweiten Weltkriegs.
Hotaru Videoclip Bild 1
Hotaru Videoclip Bild 2
Hotaru Videoclip Bild 3
Hotaru Videoclip
11.  Venus
Die Streicher nehmen fast den Ausklang des vorhergehenden Stückes wieder auf, bis akustische Gitarre und E-Gitarre, Piano und ein elegischer Bass dem Titel Struktur verleihen. Mit sanften Trommelschlägen (einer Daf  ) wird dann auch der Rhythmus angedeutet. Im weiteren Verlauf kommt noch eine Harfe hinzu. Ich spreche immer noch vom Vorspiel, das sich scheinbar endlos hinzieht, bis Chihiros Gesang einsetzt.
Im Verlauf des Stückes ändert sich das Taktmaß: Im ersten Vers und ersten Refrain ist es ein 4/4-Takt, der von den Trommelschlägen in Achteltriolen unterteilt wird. Bis dahin ist das Stück noch relativ luftig. Danach folgt ein absteigender Lauf des Fretless-Basses, nach dem das Stück bis zum Ende im 6/8-Takt fortgesetzt wird. Nun mündet es in einen Ausdruck unergründlicher Tragik, die sich im Rest des Stückes ausbreitet. Chihiro singt von ihrer Wahrnehmung von Überwältigung, die sie angesichts der Schönheit dieser Welt übermannt, oder besser, überfraut, denn es ist eine sehr weibliche Wahrnehmung. So lässt sich wohl auch die Wahl der Titelbenennung erklären: Weiblichkeit und Schönheit, ausgedrückt durch den Namen der Liebesgöttin.
Auch wenn ich als Mann der »holden Weiblichkeit« skeptisch gegenüberstehe, kann ich mich nicht diesem enormen Ausdruck im letzten Titel des Albums entziehen. In Arrangement und Tonmischung ist dieses sieben Minuten lange Werk nicht zu übertreffen. Daher kann dieses Musikstück auch nicht mit einem Schlussakkord enden, sondern muss durch Ausblenden ein Ende offen lassen.
Zusammenfassung
Dieses Album erfüllt alle Ansprüche, die man an ein gutes Musikalbum stellen kann:
Eine ausgewogene, über alle Musiktitel konsistente Tonmischung unter Aufrechterhaltung eines für jeden Titel charakteristischen »Sounds«;
eine natürliche Dynamik und audiophil herausgearbeitete Instrumentenwiedergabe, die auch bei opulentem Arrangement jedes Instrument transparent abbildet;
eine über das ganze Album gut abgestimmte Titelfolge, mit kraftvollen und energischen, aber auch ruhigen Momenten in angenehmem Verhältnis;
ausgefeilte musikalische Spannungsbögen, in jedem Titel und über alle Titel des Albums;
völliges Fehlen unnötiger und überladener Effekthascherei, d. h. nur soviele Effekte wie für den Höreindruck angemessen.
Dies ist schlicht das phantastischste und eindrucksvollste und zugleich ehrlichste Album, das ich in letzter Zeit gehört habe.
(geschrieben im Juni 2012, Ergänzungen im September 2012)
Links zum Thema
Chihiro Onitsuka – Offizielle Homepage
Wikipedia: Chihiro Onitsuka
Nostalgic Lavender – Chihiro Onitsuka Lyrics & Translations – Dorothy
The Marion(ette) – Onitsuka Chihiro – Dorothy
Frozen Call – Review: Dorothy
~Love of the Moon~ – Chihiro Onitsuka – Dorothy
Chihiro Onitsuka – Dorothy – Kurayami Monogatari
Explow – Chihiro Onitsuka images
Ironic Clown – I Love Chihiro Onitsuka!
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